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Eine Stunde Shakespeare-Lectüre

in der Prima einer Realschule I. Ordnung.

Obschon die von lange her datirende Streitfrage über die qualitative und quantitative Behandlung der einzelnen Disciplinen auf den Realschulen und die Begrenzung und mögliche Tragweite der Stellung der letzteren dem Gymnasium und der Universität gegenüber noch nicht zum völligen Austrage und definitiven Abschlusse gekommen ist, vielmehr das sehnlichst erwartete Unterrichtsgesetz auch hier Licht, Luft und Leben schaffen soll, so hat man sich doch von fachmännischer und sachverständiger Seite angesichts der Lebensfragen der Realschulen über manche so zu sagen normative Principien längst geeinigt; wie denn beispielsweise der Realschulunterricht kein Fachunterricht, sondern eine Mitgabe, und zwar eine solche der unentbehrlichsten und wichtigsten Art fürs Leben des empor und vorwärts strebenden Jünglings sein soll, als welche seinen ideellen Interessen nährend, fördernd, vervollständigend, veredelnd zu dienen hat. Dass in dieser Beziehung unter der Gesammtheit der Disciplinen den neueren Sprachen in vorderster Reihe diese Aufgabe zufalle, ist als andere ebenso wenig zweifelhafte Thatsache anzuerkennen. Sind sie doch berufen, dem Jüngling den Lohn und die Frucht jahrelanger Arbeit zu spenden, ihm ihre geheimen Schätze zu öffnen und ihn, wenn auch anfangs begreiflicherweise nur in bescheidenem Masse, aus den Schönheiten und unverwelklichen Blüten ihrer classischen Literatur etliche Spenden betrachten und geniessen zu lassen. Die Schule soll aber dafür sorgen, dass ihm die Befähigung werde und das Verlangen in ihm sich mehre, den Genuss an dem ideellen Gehalt dieser Literatur auszudehnen und sich zu bewahren. Aus diesem Grunde aber darf auch in der Prima einer Realschule I. O. auf dem Gebiete des englischen Unterrichts neben Bruchstücken aus prosaischen und dichterischen Meisterwerken der neueren und neuesten Zeit ein Shakespeare nun und nimmer fehlen. An der Vielseitigkeit seiner Dramen nach Inhalt und Form, ihrem Ideenreichthum, ihrer bis

in die tiefsten Tiefen der Individualität reichenden Seelenkenntnis, der Meisterschaft in der Charakterzeichnung, der genialen und das Gemüth durch ihre Wahrheit und Wärme erfassenden Darstellung menschlicher Leidenschaft, der verständnisreichen Fixirung und Ausbeutung grosser und wirkungsvoller historischer Charaktere und Thatsachen, an der an zahlreichen Stellen sich in wohlthuender und würdevoller Weise geltend machenden wahrhaft christlichen, ja die zartesten Saiten des religiösen Gefühls anschlagenden Lebensanschauung des Dichters sollen die Schüler ihr religiöses und ästhetisches Gefühl mit bilden und bereichern. Aber es sind ja selbstredend keineswegs diese mehr ideellen Bedürfnisse und Aufgaben allein, die durch diese Lectüre und an ihr in ihnen geweckt werden und ihre Befriedigung finden sollen, sondern ein nicht minder wichtiges und ergiebiges Feld bietet sie ja auch für die an ihrer Hand sich jederzeit ergebenden logischen und grammatischen Fragen und Gesichtspunkte. Aus dem allen geht zur Genüge hervor, wie gerade die Shakespeare - Lectüre in der Prima sich als ein in der That und Wahrheit dankbares Gebiet allezeit dem Lehrer darstellt, auf welchem dem einstweiligen Abschlusse der formalen und materialen Aufgaben im Unterricht auch hier in reicher und lohnender Weise Rechnung getragen werden kann und soll. Nun ist es ja aber selbstredend, dass der Erfüllung der eben erwähnten Aufgaben auf dem Gebiete der Shakespeare Lectüre von Seiten des Lehrers in verschiedener Weise entsprochen werden kann. Wenn in nachfolgender Darstellung Schreiber dieses bemüht gewesen ist, eine Form oberwähnter praktischer Behandlung des Dichters im Hinblick auf die Realprima aufzustellen, von der er auf Grund mehrjähriger eigener Erfahrung glaubt, dass sie fruchtbringend sei und zum Ziele führe, so liegt es ihm natürlich durchaus fern, zu meinen, damit eine mustergiltige Norm zur Lösung dieser Frage gefunden zu haben; nichts liegt ihm ferner: es sollte und das sein einziger und aufrichtiger Wunsch diese Darstellung vielmehr eine desfalsige Frage involviren an Männer, die in der Behandlung Shakespearescher Dramen vor der Schule sich reicher und gewiegter Erfahrung erfreuen, ob sie mit dieser Form der Behandlung einverstanden, und eine Bitte zugleich an alle sachverständigen Collegen, dass der Frage: Wie soll Shakespeare vor der Prima der Realschule I. O. für Kopf und Herz fruchtbar gemacht werden?" durch Darlegung der Ansichten und Erfahrungen einmal näher getreten werden möchte.

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Wenden wir uns nach diesen vorläufigen Bemerkungen unserer Aufgabe zu, und versetzen wir uns demgemäss in die Classe vor versammelte Schüler. Ich habe im letzten Sommersemester den Merchant of Venice lesen lassen. Greifen wir also einmal aus diesem Drama einen beliebigen Abschnitt heraus in dem Umfange, wie er für die Behandlung im Zeitraum einer Stunde etwa ausreicht. Es mag dieses aus der ersten Scene des vierten Actes den Anfang der Behandlung und Entscheidung der Streitfrage zwischen Shylock und Antonio betreffen, wie sie von der als Doctor der Rechte verkleideten Portia gehandhabt wird. Nachdem das Pensum der letzten Stunde in fliessendem, richtigen und guten Ausdruck von einem oder zwei Schülern deutsch vorgelesen und ich durch einige dazwischen geworfene Fragen mich vergewissert habe, dass die Hauptsache aus dem Inhalte meiner Interpretation wohl verstanden und nicht vergessen worden, schreite ich zur Behandlung der neu aufgegebenen Lection, die in der in den Händen sämmtlicher Schüler befindlichen Ausgabe der Tauchnitz edition etwa anderthalb bis zwei Seiten umfasst und also vom „Eintritt der Portia" bis etwa zu den von ihr gesprochenen Worten ,,bid me tear the bond" reicht. Es mag immerhin zur Belebung des Unterrichts etwas beitragen, mit vertheilten Rollen lesen zu lassen; ich thue es auch noch gelegentlich, aber nicht immer, da ich fast regelmässig die Beobachtung machen muss, dass diese Form der Lectüre ihr Misliches hat, sintemal die Natur des Dialogs es allzeit mit sich zu bringen pflegt, dass die Vertheilung des Lesestoffs quantitativ meist zu ungleich ausfällt, wobei dann dem Lehrer, abgesehen von den ja immerbin in seiner Hand liegenden anderen Mitteln der Controle, häufig nur in Bezug auf den die grössere Versmenge lesenden Schüler Gelegenheit geboten wird, zu constatiren, ob er gewissenhaft präparirt ist oder nicht, während andere, bei vielleicht ungenügender Präparation, mög licherweise seiner Beobachtung entschlüpfen, was immerhin vom Uebel ist. Ich bin um des willen, wie gesagt, dermalen mehr von dieser Form der Vertheilung des Pensums abgekommen, obwohl ja ihre gelegentliche Wiedereinführung je von meinem Gutdünken abhängt, und lasse von den drei bis vier Schülern, die in der Stunde etwa zum Vortrage kommen, einen jeden im Zusammenhange, also unter Zusammenfassung der im Dialog etwa auftretenden Personen, lesen, was bei dem oben erwähnten für die Stunde berechneten Umfang des Pensums 20 bis 22 Zeilen für jeden ergeben würde, so dass der erste der von mir auf

gerufenen Schüler etwa bis zum Worte „crown", resp. in Anbetracht der Kürze einiger Verse, bis sceptred sway" zu lesen hätte. Hier mögen mir jedoch zuvor noch einige Bemerkungen gestattet sein. Die hier wie wohl überall in der fremdsprachlichen Lectüre sich ergebende Aufgabe des Schülers der Oberclassen ist eine dreifache:

1) soll er die copia verborum fest und sicher im Gedächtnisse haben und darf es am allerwenigsten in der Prima gestattet sein, dass das Präparationsheft zum Vorschein komme; das ist streng verpönt; 2) soll die Aussprache des fremden Idioms richtig, alle Härte, Ungelenkigkeit und den deutschen Accent vermeidend, leicht, fliessend sein und den Lautregeln entsprechen ;

3) soll die mündliche Uebersetzung richtig, sicher, präcis und in der Wahl des Ausdrucks zugleich edel sein, überhaupt den Beweis liefern, dass der Text verstanden worden oder doch ein redliches Bemühen zum Verständniss desselben stattgefunden hat. Andererseits hat die hier gleichfalls auftretende Thätigkeit des Lehrers meines Erachtens auf folgende Punkte sich zu erstrecken:

1) hat er den logischen Zusammenhang der gelesenen Verse nachzuweisen, das Verständnis des betreffenden Abschnittes bei den Schülern mit dem der vorhergehenden zu verknüpfen und ihnen den Ueber- und Einblick in den Zusammenhang und Entwickelungsgang der Handlung lebendig und klar zu erhalten; wie er denn auch da, wo es nöthig erscheint, das Verhältnis des Dramas zu der Zeit, die es repräsentirt, desgleichen auch die Ausdrucksweise des Dichters im Verhältnis zu seiner Zeit dem Verständnis und der Würdigung des Schülers nahe zu legen hat. Die Erörterung dieser Dinge geschieht in wenigen Minuten.

2) hat er auf alles das Rücksicht zu nehmen, was im Bereiche der Idiomatik an neuen Ausdrücken, Redensarten, Verbalformen, grammatischen Eigenthümlichkeiten, Ellipsen u. dergl. zu dem bereits in diesem Bereiche Erörterten sich der Beachtung darstellt, wobei er es sich nicht entgehen lassen wird, durch gelegentliche Vergleichungen mit dem Deutschen, Lateinischen oder Französischen den Blick in die Thätigkeit des englischen Sprachgeistes zu lenken, Dinge, die erfahrungsmässig zur Vertiefung in den Gehalt der Sprache, wie zur Belebung des Unterrichts wesentlich beitragen.

3) wird er, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet, durch kurze

Fragen auf die Grammatik zurückgreifen und hier die schwierigeren Partien derselben immer wieder im Gedächtnisse aufzufrischen, ferner auch auf synonymische Verhältnisse, freilich unter weiser Berücksichtigung der Zeit, einzugehen haben.

Wenn es die Zeit erlaubt, so mag dieser dreifachen Thätigkeit der Interpretation eine dieselbe einleitende vorangehen: die nochmalige und zwar mustergiltige Uebersetzung des Pensums, deren Zweck in Ansehung der Schüler ja nahe genug liegt. Oft wird freilich der Mangel an Zeit eine derartige vollständige Repetirung verhindern, was meines Bedünkens auch leichter zu verschmerzen ist, da bei dieser vorstehend entwickelten interpretirenden Thätigkeit der Inhalt des Uebersetzten, zumal bei den weniger klar und unmittelbar zu Tage tretenden Stellen, immerhin quasi zu reproduciren sein wird, es ja aber überhaupt von dem Verhalten der Classe wesentlich mit bedingt ist, ob das nochmalige Lesen seitens des Lehrers überflüssig erscheint oder nicht.

Ich glaube nun aber, dass die Frage, welche von den drei Kategorien der Interpretation als die erste in der Reihe aufzutreten habe, lediglich von dem Tact und Belieben des Lehrers abhängt, überdies auch von der Zeit und von der Beschaffenheit des Inhalts des Pensums mit bedingt ist. Immerhin aber erscheint es mir gerechtfertigt und lohnend zugleich, mit der als den ersten Theil der Interpretation betrachteten Thätigkeit den Anfang zu machen, und also den dramatischen Gehalt, den Gedankengang des Gelesenen, den Zusammenhang mit dem Vorhergehenden in das Bereich der Besprechung zunächst zu ziehen, wie ich solches auch hier im Folgenden gethan habe, und danach die Erörterung einzelner besonderer Ausdrücke, ferner idiomatischer und grammatischer Verhältnisse in zwangloser Weise folgen zu lassen; obwohl ich es andererseits wiederum begreiflich finden kann, wenn man sich veranlasst sehen sollte, die erstgenannte Thätigkeit ans Ende zu setzen.

Schreiten wir nach dieser etwas umständlichen Erörterung zur Betrachtung des Pensums selbst; dieselbe würde etwa die folgende sein:

„Die in dem,königlichen Kaufmanne und dem Juden uns entgegentretenden schneidenden Gegensätze machen diese Scene zu der ergreifendsten und, um der Lösung des dramatischen Conflicts willen, interessantesten des ganzen Dramas. Allem Anscheine nach droht dieser Conflict für Antonio und seinen Freund ein unabwendbar ver

hängnisvoller zu werden. Mit genialer Sicherheit und feinfühliger

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